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zwischen den rillen

Art of Noise: ATR und Werther/Wittwer machen Lärm

Rock nach dem Atomkrieg

Der Abend des 29. November 1999 in der Brixton Academy in London muss die Hölle gewesen sein. Bereits vor ihrem Auftritt hatte die schwangere Hanin Elias erklärt, nach einer auszehrenden Welttournee im Namen der Gerechtigkeit und der Revolution nicht mehr auf die Bühne zu können. Sie könne da nur noch kotzen.

Auch die anderen Mitglieder von Atari Teenage Riot waren am Ende. Alec Empire war nervlich so belastet mit dem Zusammenhalten der Band, der Führung seiner Digital-Hardcore-Labels und durch die Monate währende Tour, dass er auf Schmerzmittel, besonders Kodein, zurückgreifen musste. Carl Crack, der MC dieser Krachkapelle, war vom Drogenmissbrauch aufgezehrt. Und auch Nic Endo, erst seit 1998 fester Teil der Band, war das Gegenteil von Frische und Fröhlichkeit. Allen ging es Scheiße.

Dennoch sagten Atari Teenage Riot ihr Konzert an diesem Abend nicht ab. Ohne Sängerin Hanin Elias betraten sie die Bühne und knallten eine Wand aus Lärm gegen die Köpfe ihrer Fans, wie man sie nur produzieren kann, wenn man voller Verzweiflung und Hass steckt (und das ist in diesem Fall wohl kein Klischee). Endo, Empire und ihr Shouter Crack schrieen wie besengt und ließen aus ihren Maschinen ein Soundgewitter krachen - das war etwas anderes als die sonst von ihnen gewohnten, x-fach gebrochenen Drum-n- Bass-Gitarrengeschrebbel-Baller-Tracks, über die dann ekstatische Stimmen "Revolution" oder "Fuck, fuck, fuck" kreischen.

Wie der Mitschnitt des Konzerts belegt, fanden ATR als Trio zu einer neuen Form von musikalischer Wut. Die Fans ahnten, wem die Wut galt, und reagierten entsprechend entsetzt. Bei der Fahrt zum Hotel, nach diesem denkwürdigen Konzert, so berichtet Alec Empire, hätten Leute auf sie gewartet, nur um vor den Augen der Band ihre ATR-T-Shirts zu zerreißen.

Was Empire im Ton der Verwunderung berichtet, ist eigentlich das, was zu erwarten war: ATRs Lärmphilosophie stützt sich schließlich darauf, gehasst zu werden. Die Ablehnung ihrer Musik durch Leute, die als Spießer identifiziert werden, fasst die Band mit denen, die ebenfalls keine Spießer sein wollen, in eine, wie sie glauben, linke und politisch relevante Gemeinschaft zusammen.

Der Konzertmitschnitt "Live At Brixton Academy 1999" ist ein Dokument der Bandgeschichte, als Musik ist er völlig überflüssig. Wenn Empire in dieser Kakophonie im Nachhinein Geniales heraushört und auf die Götter der E-Musik verweist, dann dient das allenfalls dem Marketing. Die Platte ist ein privates Dokument, und jeder, der eine Erinnerung mit der Band teilen mag, kann es käuflich erwerben.

Wie man bei freier Improvisation zu Freejazz und tatsächlich neuartiger Musik kommt, zeigt dagegen das Duo Werther/Wittwer. Ihre CD "I" ist auf dem ambitionierten Kölner Noiselabel Grob erschienen, das seine Künstler ins Studio schickt und die Ergebnisse dieser Sessions veröffentlicht, wie auch immer sie ausfallen mögen.

Dieses Vertrauen schafft Freiheit. Der Schweizer Gitarrenexperimentator Stephan Wittwer und Michael Wertmüller, der sonst bei der in Noise-Kreisen schwer beliebten Band Alboth! trommelt, spielen einander zu und voneinander weg und kreieren dabei nicht nur Musik, sondern: Rock, auf sein Gerippe abgeschält. Vergleichbar sind Werther/Wittwer mit der amerikanischen Band Painkiller des Jazzers John Zorn: Aus archaischen Tönen entsteht hier eine komplexe, assoziative Form von Rock - als würde lange nach dem Atomkrieg, wenn Rock nur noch von Gerüchten her bekannt ist, er noch einmal - und jetzt tatsächlich neu - erfunden. Neu gefunden.

Werther/Wittwer sind nicht ins Studio gegangen, um Rock oder Songs zu machen, sie sind bei ihrer Arbeit dazu gekommen. So macht Noise Sinn: als Arbeitsmethode und eben nicht als Haltung. Die Stücke, die so entstanden sind, beschreiben auf eine schöne Art ihre eigene Entstehung mit. Werther/Wittwer mussten nichts leisten und gegen nichts ankämpfen. Das ist wahre Freiheit. Atari Teenage Riot dagegen machten an jenem denkwürdigen 29. November 1999 die Musik von Gefangenen.

JÖRG SUNDERMEIER

Atari Teenage Riot: "Live At Brixton Academy 1999" (DHR/Connected) Werther/Wittwer: "I" (GROB)

taz Nr. 6228 vom 25.8.2000 JÖRG SUNDERMEIER Rezension

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