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Fashionable (Kolumne)

Glamouröser Lärm

Was Sie hier lesen, ist natürlich keine Musikkritik. Denn dafür gibt es geeignetere Gefässe. Es geht um die formalästhetische Annäherung an ein Ton-Produkt und seine lebensweltliche Einordnung. Beginnen wir mit dem Vogel-Logo auf schwarzem Grund. Es ist sowohl sinister wie fröhlich und befindet sich an der Schnittstelle von Plattenbausiedlung und Fiorucci. Kurz: Es ist intensiv, es ist cool, es swingt. Diese CD-Hülle gehört vielleicht einem Mann, der schwarze T-Shirts mit Totenkopf-Applikationen trägt. Sie könnte aber genauso gut bei einer Frau gefunden werden, die ihr belgisches Veronique-Branquinho-Outfit mit einem Slayer-Tattoo kombiniert.

Und jetzt die Fakten. Diese CD heisst "I" und spielt die Musik des Duos Werther/Wittwer. Sie ist beeinflusst von Rock, von Hardcore, von Noise. Trotzdem wollte der Produzent (Wittwer) kein Poweralbum herstellen, das den Hörer unmittelbar überwältigt. Schliesslich handelt es sich um dynamische Musik mit grossen Bögen und also um eine "klassische" Machart. Keine Stückchen, sondern ein Ganzes. Was man wissen muss: Dieses Hörprodukt beginnt ganz leise, mit einem Störton - absichtlich! Der Produzent möchte, dass alle Hörerinnen und Hörer den Lautstärkenknopf ihrer Hi-Fi-Anlage so hoch wie immer möglich stellen. Lauter ist besser.

Die Musik? Sie ist Amphetamin, und sie ist eine strukturelle Analyse. Sie forscht. Sie fusioniert. Und dann geht sie weiter und entwickelt ihre ureigene Definition von bombastischer Improvisation. Sie ist gleichzeitig Free Jazz, satanischer Metal und Sufi-Musik. Sie surft und sie punkt. Sie verschmelzt Aggressivität und Hingabe. Sie ist Ausser-Körper-Erfahrung und glamouröser Lärm. Werther/Wittwer, das sind Michael Wertmüller (Schlagzeug) und Stephan Wittwer (Gitarre, Elektronik), über welchen das Musikmagazin "Spex" schreibt, er sei "...vielleicht der letzte lebende Metal-Gitarrist...".

Nochmals: Diese Musik ist wie eine Faust, die im Stillstand ausholt. Diese Musik könnte Ihre Religion werden. Und wer besagte CD mit dem Titel "I" auf Ihrem Knoll-Tisch liegen sieht, wird wissen, dass Sie eigentlich Fundamentalist sind.

Michelle Nicol, Neue Zürcher Zeitung
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