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Die Weltwoche
Kolumnen
Ausgabe Nr. 29/00, 20.7.2000

Jazz plus

Eine kleine Machtmusik

Von Peter Rüedi

Jetzt singt nur noch ein ganz leiser Tinnitus im Ohr, aber der stellt sich bei mir öfter mal ein nach einer grossen Anstrengung. Ansonsten absolute Stille. Wer die CD mit dem trügerisch lapidaren Titel «Werther/Wittwer: I» nach den Vorstellungen der Musiker angehört, durchlitten, am eigenen Leib erfahren hat, nämlich so laut wie möglich, ist nachher ein anderer Mensch als vorher. Er hört die Steine singen. Vielleicht stellt sich Normalität wieder mal ein, aber fürs Erste und eine ganze Weile ist sie im Nachhall ausgeschaltet. Werther, der Schlagzeuger Michael Wertmüller, geboren 1968, sonst auch schon in gemässigteren Zonen der Präpostmoderne tätig, obwohl bei seinen meisten Hervorbringungen das gelbe Warnschild mit dem Blitz schon angebracht ist, und Wittwer Stephan, 47, «Gitarre, Geräte», wie es in seiner Biografie heisst, sind im wahrsten Sinn ein Duo infernal. Hätte Dante in seinem stillen 14. Jahrhundert solches erahnt oder gar gehört, er hätte seinem Inferno noch einen allerinnersten Kreis eingeschrieben. Dieses Donnern, Wummern, Wimmern, Kreischen, Pfeifen, Krosen, Tosen verknäuelt sich beim ersten Anhören zu einer akustischen Katastrophe, die, ohne Gehörschutzpfropfen appliziert, zunächst nur der als Kunst erkennt, der an des Kaisers neue Kleider glaubt.

Allein, dieser Lärm ist Kunst, mehr als vieles, was wir unter den Stichwörtern «noise», «metal», «free» schon tapfer ertragen haben. Werthers hoch differenziert archaisches Schlagzeug und Wittwers brachial raffiniertes Elektro-Arsenal (dass da einer Gitarre spielt, ist für den Laien allenfalls gelegentlich zu erahnen) produzieren gewiss anderes als romantische Kantilenen. Aber ihr Dialog folgt, ich schwöre es beim Urknall und bei allen Titanen des Chaos, einem höchst differenzierten Bauplan. Dessen Witz offenbart sich allerdings erst dem, der sich ein zweites Mal in den Taifun wagt. Da branden ironische Echos aus allen Richtungen und Epochen an und zersplittern wieder, und der vorurteilslose Hörer beginnt zu verstehen, weshalb Wittwer diesem Rezensenten das Stück mit der Bemerkung schickte, es stecke «mehr Jazz drin», als es zunächst den Anschein mache. Für Träger von Herzschrittmachern ist die Scheibe kontraindiziert, besonders empfindliche Kunstfreunde sind vor dem Betreten des Hochspannungsraums gewarnt. Anderseits könnte sein, dass Melancholiker aus diesem Induktionsgewitter mit einem breiten Lachen im Gesicht auferstehen. Überhaupt: Wie anders als mit solchen Aktionen ist der wahre Wahnsinn auszutreiben, Musikantenstadl, die Warenhäuser und ganze Fussgängerzonen verpestende Muzak, die entsetzliche Klassik, die uns schon jede interne Telefonverbindung zur Marter macht? Da erscheint diese kleine Machtmusik schon fast als einzig sinnvolle Notwehr oder Therapie. Ein starkes Stück.

M.Wertmüller, S. Wittwer: Werther/ Wittwer: I. Grob Cologne, in der Schweiz bei Karbon Distribution, ZH

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